Viele Chancen für Mädchen in „typisch“ männlichen Berufen

Feuerwehrfrau Wiebke Gressmann stellte den jungen Frauen aus Wilhelmsburg den Beruf bei der Feuerwehr vor Foto: au

Viele Chancen für Mädchen in „typisch“ männlichen Berufen.

Berufsfindungstage für Mädchen in der Honigfabrik.

Die Mädchen hören konzentriert zu, als Feuerwehrfrau Wiebke Gressmann ihnen an diesem Freitagmorgen die Funktion eines Atemschutzgerätes erklärt. Sie stehen vor einem riesigen Feuerwehrauto, mit dem die jungen Frauen – natürlich in Feuerwehrkleidung – kurz vorher zur Besichtigung der Wilhelmsburger Feuerwache gefahren sind. Wie schwer die Ausrüstung der Feuerwehrfrau ist, merken die sieben Mädchen im Alter von 13 und 14 Jahren, als Wiebke Gressmann ihnen das rund 20 Kilogramm schwere Gerät aufsetzt. Doch abschrecken lassen sich die Teenager davon nicht, ihr großes Interesse an diesem Beruf zu zeigen. Damit haben die Organisatoren der diesjährigen Berufsfindungstage für Mädchen in der Honigfabrik Wilhelmsburg bereits ein Ziel erreicht. „Wir wollen den Mädchen vorrangig die gewerblich-technischen Berufe praktisch näher bringen“, erklärt Nihada Moric vom Mädchentreff Kirchdorf-Süd Dolle Deerns e.V.
Zusammen mit der Honigfabrik, der Nelson-Mandela-Schule, der Schule Stübenhofer Weg und dem Haus der Jugend Kirchdorf hat der Mädchentreff nach zwei Jahren coronabedingter Pause wieder die Berufsfindungstage für Mädchen durchgeführt. Rund 90 Mädchen beider Schulen aus der achten Klasse und einige aus der 10. Klasse haben teilgenommen. „Wir veranstalten die Berufsfindungstage bereits zum 34. Mal! Wir sind vorher an die Schulen gegangen, haben die Mädchen vorbereitet, die Firmen organisiert, uns mit den Referentinnen getroffen“, erinnert sich Moric. Insgesamt neun Berufsbereiche standen den Schülerinnen zum Reinschnuppern zur Auswahl: Feuerwehr, Gebäudereinigung, Büromanagement, Holz, Technische Zeichnerin, Apotheke, Industriemechanikerin, Industriekauffrau und Chemikantin.
Mädchen ein erweitertes Berufsspektrum zeigen, über „andere“ Berufsbilder informieren und dabei vermitteln, dass auch in männlich dominierten Berufssparten viele Chancen liegen, sind weitere Ziele der Berufsfindungstage. Denn wenn die Mädchen die „typisch“ weiblichen Berufe wählten, bedeute dies meistens: Unter dem Durchschnitt liegende Verdienstmöglichkeiten, von denen sich ein ökonomisch unabhängiges Leben allein nur schlecht oder die Versorgung einer Familie kaum finanzieren lasse.
Wie aktuell das Thema und wie wichtig die Berufsfindungstage für Mädchen sind, zeigt die aktuelle Diskussion um den Fachkräftemangel in Deutschland. Arbeitgeber suchen händeringend Fachkräfte und Auszubildende, locken mit Geldprämien, Life-Work-Balance und weiteren Extras, um potenzielle Auszubildende und Arbeitnehmer zu gewinnen. Das gelingt allerdings eher schlecht als recht. Nachdem das Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung das „Fachkräftemonitoring für das Bundesministerium für Arbeit und Soziales“ im August dieses Jahres herausgegeben hat, titelte zum Beispiel Marcel Fratzscher, Präsident des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung, für eine Kolumne in der Wochenzeitung „Die Zeit“: „Das größte Potenzial auf dem Arbeitsmarkt sind die Frauen!“ Denn „obwohl die Erwerbsquote von Frauen in Deutschland seit den Neunzigerjahren stetig gestiegen ist, arbeitet die Mehrheit der Frauen auch heute noch in Teilzeit. Nur etwa 35 Prozent der Frauen im erwerbstätigen Alter arbeiten in Vollzeit, im Vergleich zu fast 70 Prozent der Männer“, so Fratzscher. Deswegen bräuchte man eine „strukturelle Stärkung der Erwerbstätigkeit von Frauen“. Dass langsam ein Umdenken in den Firmen stattfindet, merken auch Nihada Moric und ihre Mitstreiterinnen. „Wir wurden bereits gebeten, ihnen interessierte Mädchen zu schicken, die eine Ausbildung machen wollen!“
Wie dringend nötig ein Umdenken ist, weiß auch Ronja Leske. Die 35-Jährige ist Gebäudereinigerin im Gebäudereinigungsunternehmen Bogdol und bildet Nachwuchskräfte aus. „Von elf Auszubildenden in diesem Jahr ist nur ein Mädchen dabei“, erzählt Leske. Was genau man in diesem Beruf macht und wie anspruchsvoll die Ausbildung ist, hat Leske, die 2015 zu Deutschlands bester Nachwuchs-Gebäudereinigerin gekürt wurde, den Mädchen ausführlich erklärt. „Die Mädchen waren sehr interessiert und sehr fleißig“, so Leske.
Mit Fikriye Bozkus hat das Organisationsteam eine ehemalige Teilnehmerin an Bord holen können. Die heute 34-Jährige hat selber vor rund 20 Jahren an den Berufsfindungstagen teilgenommen. Heute ist Fikriye Bozkus erfolgreiche Architektin. „Ich habe nach der Schule eine Ausbildung zur technischen Zeichnerin gemacht und habe anschließend Architektur studiert. Ohne die Unterstützung des Mädchentreffs und der Berufsfindungstage wäre ich heute nicht hier“, freut sich Fikriye Bozkus, die auch heute noch in Kirchdorf-Süd lebt.