Sendemast statt Bärenkopf

Sendemast statt Bärenkopf

Joachim Voß: Was Marmstorf von den Alpen unterscheidet

Wenn Joachim Voß aus dem Fenster seiner Wohnung im 9. Stock eines Wohnblocks in Marmstorf blickt, dann liegt ihm a.) der Stadtteil förmlich zu Füßen und b) erkundet er den Horizont. Was er dort entdeckt überrascht ihn immer wieder, hat er doch – und für ihn als Neu-Harburger ist das besonders interessant – Zeit seines Lebens in Niendorf gewohnt. Marmstorf und Harburg: terra incognita! Dabei benutzt er einer alten Gewohnheit entsprechend Karte und Kompass und freut sich über jede neue Erkenntniss. Selbst den Turm von St. Nikolai an der Ost-West-Straße, die Elbphilharmonie und den Fernsehturm kann er erkennen, wenn es nicht allzu dunstig ist. Was er jedoch nicht erspähen kann – und das fehlt ihm, wie er freimütig bekennt – sind richtige Berge und Berggipfel. Denn Joachim Voß (mittlerweile 84) war Zeit seines Lebens als Bergwanderführer (auf diese Bezeichnung legt er Wert, denn er war nicht Bergführer, was etwas ganz anderes ist) im Raum Achenkirch/Tirol am Achensee unterwegs. Vor einem halben Jahr hat es den rüstigen und drahtigen Rentner, der im Berufsleben Versicherungskaufmann bei der Barmer war, nach Harburg verschlagen, weil er in der Nähe seiner Tochter und deren Familie wohnen wollte. Statt seines bevorzugten Gipfel, dem Bärenkopf (1800 m), muss Voß nun mit bescheideneren Erhebungen in der Umgebung Vorlieb nehmen, doch auch da gibt es einiges zu entdecken, wie beispielsweise die Spitze des Kirchturms aus Sinstorf, Hochhäuser oder Antennen- bzw. Sendemasten…
Angefangen hat alles als der Flachlandtiroler, wie Voß sich gerne bezeichnet, im Alter von 24 Jahren mit einem Freund ab Füssen im Algäu eine Bergwanderung absolvierte. Damals hat er sich in die Berge verliebt, nicht viel später auch in die junge Dame, die später seine Frau werden sollte. Auch sie zog es in die Berge, allerdings mehr zum Skifahren. Aber das ist eine andere Geschichte.
Bei der Barmer lernte der mittlerweile Neu-Marmstorfer im Rahmen eines Seminars der Staatspolitischen Gesellschaft den Chef der Alpinschule Innsbruck (ASI) kennen. Nach einer gemeinsamen Wanderung dann dessen Angebot: „Du würdest gut zu uns passen“, eröffnete er dem Hamburger. Der nahm an und der Grundstein für eine langjährige Zusammenarbeit war gelegt. Voß schloss sich der ASI an, absolvierte Kurse und Lehrgänge und brachte es schließlich zum Bergwanderführer. Von 1996 bis 2009 war er zumeist rund um den Achensee unterwegs. Sein Favoriten waren indessen das Schneeschuhwandern und Hüttentouren. Er kniete sich nach bestem Wissen und Gewissen und mit großer Begeisterung in die Materie rein. Der Dank: 2008 wurde er vom Bundespräsidenten Horst Köhler mit dem Bundesverdienstkreuz ausgezeichnet, nachdem er bereits 2007 den Bürgerpreis Eimsbüttel erhalten hatte. Die damalige Sozialsenatorin Birgit Schnieber-Jastram sollte es ihm verleihen. Terminschwierigkeiten und anstehende Wahlen führten dazu, dass erst ihr Nachfolger im Amt, Dietrich Wersich (CDU), diese Auszeichnung endlich im November überreichen konnte. Bis 2011 war Voß für die ASI aktiv, unter anderem betreute er auch Stände auf Reisemessen.
Erzählen kann Joachim Voß manche Begebenheit. An eine erinnert er sich, als sei es gestern gewesen. Bei einer Wanderung – ein Bergführer hatte ihn eingewiesen – wurde seine Gruppe wider Erwarten von schlechtem Wetter überrascht und Voß beschloss, abweichend von der ursprünglichen Route, eine Not-Hütte mit kleiner Wirtschaft aber ohne jeglichen Telefon- oder Funk-Kontakt, anzusteuern.Was dann auch klappte. Im Ausgangsort der Wanderung wurden Voß und seine Truppe am nächsten Tag schon sehnsüchtig erwartet, denn man befürchtete das Schlimmste, weil man keine Nachricht von ihnen hatte. Voß, in seiner Jugend ein begeisterter Leichtathlet, ärgerte sich abschließend, dass er sich gänzlich auf diesen Mann verlassen hatte, „denn wenigstens vor der Schlechtwetterfront hätte er mich warnen müssen.“ Auch die Kameradschaft am Berg hat er während all der Jahre schätzen gelernt. Was er erlebt hat, hat er in seinen Memoiren aufgeschrieben – allerdings nur für seine Familie. In einem Ordner hat Voß manches gesammelt: Dokumente, Zeitungsberichte, Fotos – sie alle bestätigen sein Motto, dass er von Goethe übernommen hat: „Nur wo du zu Fuß warst, warst du wirklich.“
Die Liebe für die Berge ist bis heute geblieben, trotz der 84 Jahre. Gipfel erstürmen will er nicht mehr aber – zwar etwas ruhiger – immer noch aktiv bleiben. Erst im vergangenen Juni war er einige Wochen als Bergwanderführer für ein Wanderhotel in Achenkirch/Tirol am Achensee unterwegs. Es waren überraschend viele Teilnehmer aus Harburg dabei! „Anfang Oktober (einer seiner Lieblingsmonate für das Wandern) bin ich erneut dort,“ kündigt er an. Erst im Oktober 2015 wurde er zum Sonderbotschafter der Tiroler Achenseeregion ernannt. Und wenn er wieder in seiner zweiten Heimat ankommt heißt es ein ums andere Mal „Der Hamburger ist wieder da.“