„Die wollten das nicht erkennen“

pm -Ulrike Winkler hat Licht in die Geschehnisse im Margarethenhort während der 1970er/1980er-Jahre gebracht und das das Unfassbare in Worte gefasst

„Die wollten das nicht erkennen“.

Aufgearbeitet: Missbrauchsfälle im Margarethenhort.

Der Margarethenhort in der Haakestraße sollte in den 1970er- und 1980er-Jahren eigentlich ein sicherer Hort sein – ein Hort, der Kinder und Jugendliche vor sexualisierter Gewalt in ihren Familien schützen sollte. Der Margarethenhort, ein Kinderheim der evangelischen Kirche, wurde indessen zu einem Hort der Gewalt. 16 Jungs, ebenfalls Bewohner dieser Einrichtung, sowie vier weitere Jugendliche von außerhalb, haben über Jahre mindestens zehn Mädchen Gewalt angetan – unter den Augen des Personals und von diesem angeblich nicht bemerkt. Der Kirchenkreis Ost brachte im Jahr 2016 diese unglaublichen Missstände selbst mit großer Betroffenheit an die Öffentlichkeit und bat Zeugen, sich zu melden. Zahlreiche unglaubliche Details sind mittlerweile ans Tageslicht gekommen. Ulrike Winkler hat jetzt eine Studie vorgelegt, die detailliert Einblick in diese unvorstellbare Welt des Schreckens gibt. Im Geleitwort schreibt Ulrike Murmann, Pröpstin des Ev.-Luth. Kirchenkreises Hamburg-Ost: „Die Schuld, die unsere Kirche an ihrem Schicksal (der betroffenen Jugendlichen – die Red.) und an einer Kultur des Schweigens und Wegschauens trägt, ist beträchtlich. Wir haben sie zu bekennen und anzunehmen und bitten diejenigen um Vergebung, an denen wir schuldig geworden sind.“ Der Dank gelte insbesondere jenen, „die sich bereit erklärt haben, über ihre Vergangenheit zu berichten.“
Die Ergebnisse dieser Forschungsarbeit sollen Eingang in die Präventions- und Schutzkonzepte kirchlicher und diakonischer Einrichtungen finden. Der Margarethenhort wird mittlerweile als eigenständige GmbH geführt. Die Studie hinterfragt auf 105 Seiten die Strukturen jener Jahre und benennt die Ursachen der Geschehnisse unter dem Dach dieses kirchlichen Heimes. Die Studie sei nicht nur Ergebnis eines komplexen Prozesses, sondern auch eine Chance, „das Nichtgehörte zu hören und besprechbar zu machen“, so die Pröpstin weiter. Rainer Rißmann, heute Geschäftsführer der Martgarethenhort Kinder- und Jugendhilfe gGmbH, bedankte sich seinerseits bei der Vorstellung der Studie für die große fachliche Expertise der Autorin und ihr „Einfühlungsvermögen in diese dunkle Zeit“, die mehr als 30 Jahre zurück liege. Eine seiner prägendsten Erfahrungen im Aufarbeiteingsprozess habe darin bestanden, „dass die verantwortlichen Leitungen, Geschäftsführungen und Aufsichtsgremien der 1970er- und 1980er-Jahre bis in die jüngste Zeit hinein die Verantwortung für das Geschehen in ihrer jeweiligen Rolle offenbar nicht so wahrgenommen haben, wie ich es heute für mich als Geschäftsführung verstehe und als Verpflichtung ansehe.“ Mit der Anerkennung der Historie erkenne er als ein Verantwortlicher des Aufarbeitungsprozesses an, „dass massive sexuelle Gewalt ausgeübt wurde.“
In der Studie, die nun als Buch erschienen ist (Verlag für Regionalgeschichte, Bielefeld), werden laut Autorin nur wenige Personen mit Klarnamen genannt. Die Anonymisierung diene dem Schutz der Betroffenen und derjenigen, „die heute noch in irgendeiner Weise mit dem Margarethenhort verbunden sind.“
Die Ereignisse, die ans Tageslicht gekommen sind, sind umso erschütternder, als auch der Margarethenhort für sich in Anspruch nahm, dass neben dem heil- und sozialpädagogischen Angebot für die Kinder die Möglichkeit bestanden habe, „ein echtes Zuhause im Heim zu finden.“ Das Gegenteil war der Fall, und: In keiner der noch existierenden Unterlagen habe sich auch nur der kleinste Hinweis auf das gefunden, was einigen Bewohnern – „zum Teil mit Wissen und unter den Augen von Erzieherinnen“ – angetan wurde, so die Autorin. Die Erlebnisse und das Leid der Betroffenen stehen im Mittelpunkt dieser Aufarbeitung. Die geschilderten Details sind erschütternd und Winkler erspart sie ihren Lesern nicht. Sie geht akribisch vor und hat – quasi zur Orientierung – den Grundriss der Wohnetage im Margarethenhort, damals Haakestraße 98, als Cover gewählt.
Schilderungen der mittlerweile erwachsenen Frauen wie „in die Fresse gehauen“ und „Fratzengeballer“ durch die älteren, pubertierenden Jungen oder Schilderungen über Schreie aus den Schlaf- und Badezimmern, die von den Erzieherinnen nicht gehört worden seien, schildern hier nur unvollständig das tatsächliche Geschehen. Die verzweifelten Versuche, sich der sexuellen Gewalt zu entziehen, waren zumeist zum Scheitern verurteilt gewesen, denn auf Hilfe durch die Erzieherinnen habe man nicht bauen können, heißt es in den Schilderungen. Unvorstellbar: Die Gewalt war zum Alltag geworden: Eines der betroffenen Mädchen bezeichnet dieses Geschehen – einschließlich Vergewaltigung – schicksalsergeben als „normal“, frei nach Motto „Wer mitmacht, hat seine Ruhe“ oder „Na ja, ist passiert, was nicht tötet, härtet ab.“ Selbst das Außengelände habe den männlichen Jugendlichen weitere Orte geboten, den Mädchen aufzulauern und ihnen Gewalt anzutun. Der Spielplatz sei ein richtiger Albtraum gewesen, ebenso der Keller und dunkle Flure und Ecken, schildert eine „Nina Walker.“ Ein Übriges hat laut Winkler die damals favorisierte Co-Edukation getan, die keine räumliche Trennung zwischen den Geschlechtern vorsah und somit diesem Geschehen Vorschub leisten konnte.
Nina, „Pia“ und andere haben ihre Erzieherinnen über das Geschehen informiert. Geglaubt hat man ihnen nicht – sie wurden der Lüge bezichtigt! Folge: Sie blieben ihren Peinigern ausgeliefert und der Eindruck verfestigte sich bei den Mädchen, dass die Erzieherinnen wohl geglaubt haben (schließlich kamen die Kinder aus so genannten „kaputten“ Familien), „als ob wir das so wollen… als ob wir Schlampen sind.“ Die Erkenntnis von Nina, Pia & Co: „Die wollten das nicht erkennen.“ Gleichwohl kommt die Studie zu dem Ergebnis, das zumindest einzelne Erzieher wohl geahnt haben, was passierte, den Mut, das zu benennen, jedoch nicht aufgebracht haben.
Fakt ist aber heute auch: Die Taten sind mittlerweile verjährt. Das Fazit von Ulrike Winkler: „Der Margarethenhort war ‚weder ein behüteter noch ein behütender Ort.‘“ Aber auch das ist eine Erkenntnis der an dieser Aufarbeitung Beteiligten: „…dass ’so etwas‘ wie im Margarethenhort nicht wieder passieren darf.“