Notiert: Essen, messen und wünschen – Beobachtungen in Corona-Zeiten

Notiert: Essen, messen und wünschen – Beobachtungen in Corona-Zeiten.

von Peter Müntz.

Hans Castorp, den etwas febrilen Hauptakteur in Thomas Manns 1000-seitigem „Zauberberg“-Epos, hätte es gefreut, war doch sein siebenjähriger Tagesablauf in dem Schweizer Sanatorium für Atemwegserkrankungen, „da oben“ (auf dem Berg), wie es bei dem Lübecker heißt, von „messen und essen“ geprägt. Zu messen galt es die erhöhte Temperatur, so wie es heute angesichts von Corona heute viele von uns machen. Der Blick auf „Merkurius“, die wärmeempfindliche Quecksilber-Säule im Thermometer, ist bei manchem zur Routine geworden. Die Folge: Nicht nur die Regale, wo einst das WC-Papier lag, beeindruck(t)en mit glänzender Leere – auch von Fieberthermometern keine Spur. Als dann die heiß ersehnte Lieferung dieses Messgeräts eintraf, sah sich eine Apotheke im Erscheinungsgebiet dieser Zeitung veranlasst, den Artikel im Schaufenster groß anzukündigen: „Wieder erhältlich: Fieberthermometer!“ Wow. Wer hätte das je gedacht: Fieberthermometer werden zu Bückware! Was das alles mit Hans Castorp zu tun hat? Nun, der musste sein Thermometer bei einer unsympathischen Schwester Oberin überteuert kaufen – dabei wäre er viel lieber von „da oben“ hinab ins Tal gestiegen, um die neu eingetroffene Ware zu erwerben. So viel zum „Messen.“ Bleibt das Essen.
Dazu äußert sich die italienische Schriftstellerin und Journalistin Francesca Melandri (Autorin des bemerkenswerten Romans „Alle, außer mir“) in einem offenen Brief an das Nachrichten-Magazin „Der Spiegel“. Sie nimmt an, dass in absehbarer Zeit auch in Deutschland die gleichen Corona-Zustände herrschen werden wie in ihrer Heimat. Und: Wer nicht erkrankt ist und wegen der Ausgangssperre daheim bleiben muss, wird essen, essen und wieder esssen – einer der wenigen Höhepunkte im Alltag – und eine schöne Erinnerung an den Alltag vor Corona. Da schließt sich der Kreis. Essen war – neben Gesprächen über Gott und die Welt – auch „da oben“ nicht anders als heute, hier unten, ein Höhepunkt des Tages. Überraschend, wie sich Prioritäten binnen Wochen verschieben können. War das Schwelgen in kulinarischem Luxus vor wenigen Wochen nicht noch eine Selbstverständlichkeit?
Zu dem Thema gehört auch, dass Schleswig-Holstein sich über jeden Gast freut, der … nicht kommt. Er könnte ja das Virus einschleppen. Und hätte je jemand gedacht, dass der Landkreis Stade aus demselben Grund seine Deiche und Strände entlang der Elbe sperren lässt, wo man doch in der Vergangenheit zur Oster- und Blütezeit beinahe um jeden einzelnen Tagesausflügler oder Touristen nach Kräften warb. Corona macht’s möglich!
Bei alledem fällt auf: Wildfremde Menschen, die miteinander ins Gespräch kommen, wünschen sich, und meinen es grundehrlich: „Bleiben Sie gesund.“ Floskeln unerwünscht. Da gewinnt sogar ein oft daher gesagter Satz neue Bedeutung: „Sie sind mit Abstand der Beste! Oder etwa nicht? So schnell können sich Prioritäten verschieben – beim Messen, Essen und Wünschen.