Königsberger Straße geht an den Start

FLMK - Visualisierung: So soll die „Königsberger Straße“ rund um die Nissenhütte (mi.) nach der Fertigstellung aussehen

Königsberger Straße geht an den Start

Freilichtmuseum stellt Großprojekt vor – Baubeginn in zwei Wochen

Noch ist vom Großprojekt „Königsberger Straße“, an dem das Freilichtmuseum sei mehreren Jahren arbeitet, nicht viel zu sehen. Erstes greifbares Ausstellungsstück ist jetzt ein Treckwagen – einer von nur vier nachweislich in Deutschland erhaltenen – wie ihn Heimatvertriebene auf ihrer Flucht aus Bessarabien im Zweiten Weltkrieg benutzten. Er weist auf das Schicksal vieler Millionen geflohener, vertriebener und umgesiedelter Menschen hin, die ab 1945 die ehemaligen deutschen Ostgebiete verlassen mussten. Die geplante Dauerausstellung – erster Spatenstich ist am 15. Juni – ist, wie der Museumsdirektor Stefan Zimmermann erläuterte, „ein bundesweit einmaliges Projekt.“ Unter dem Titel „Königsberger Straße“ baut das Museum in Ehestorf rund um die bereits vorhandene Nissenhütte mehrere Häuser auf – ein Doppelhaus und ein Siedlungshaus, einen Aussiedlerhof und auch ein Fertighaus – einschließlich der Selbstversorgergärten, Straßenlampen, Litfasssäule, Tankstelle und Telefonzelle. Gezeigt werden der Alltag auf dem Dorf zu der Zeit und der Wandel bis hin zu den Jahren des Wirtschaftswunders.
Mit diesem Großprojekt errichtet das Freilichtmuseum in den kommenden sechs Jahren eine Baugruppe, die typisch für das Leben in der Nachkriegszeit ist, aber bis heute das Erscheinungsbild von Dörfern in ganz Deutschland prägt. Zimmermann: „Die Umbrüche in dieser spannenden Zeit betreffen jeden Dorfbewohner. Wir stellen dar, wie Einheimische, aber auch Neubürger die Aufbauzeit erlebten.“ Über 12 Millionen Flüchtlinge, Vertriebene und Evakuierte, dazu etwa zehn Millionen ehemalige Zwangsarbeiter gab es in Westdeutschland nach dem Zweiten Weltkrieg. Der Landkreis Harburg, in dem das Freilichtmuseum liegt, zeigt beispielhaft, wie sich die Integration der Neubürger vollzog. Der Landkreis nahm überproportional viele Menschen auf und verdoppelte seine Einwohnerzahl von 62.602 Menschen im Jahr 1939. „Wir zeigen, wie diese Menschen ihre Heimat in der jungen Bundesrepublik fanden, welche individuelle Mühen sie auf sich nahmen und was sich positiv veränderte“, erläuterte Zimmermann. Insbesonders auf den Dörfern wurde ein Prozess der kulturellen und und wirtschaftlichen Modernisierung angestoßen – das Quelle-Fertighaus (als Beispiel für die Amerikanisierung der Gesellschaft) und der spätere sprichwörtliche Käfer sprechen eine beredte Sprache. Die Neubürger brachten neues Fachwissen mit, sie bereicherten mit anderen Traditionen und Gewohnheiten das bestehende Dorfleben und stießen damit oft auf große Ablehnung.
Der Treckwagen ist aus Holz gebaut und hat die 3000 Kilometer aus Tarutino in Bessarabien (heute Republik Moldawien) bis nach Oerbke (Landkreis Heidekreis) und den späteren Einsatz in der Landwirtschaft heil überstanden. Die Aufbauten sind nach Erinnerungen Hans Bierwags zum Fluchtzeitpunkt rekonstruiert worden. Erst 1956 zog sich der Wagen eine erste Beschädigung zu: bei der Kollision mit einem Panzer vom benachbarten Truppenübungsplatz. Als fünfjähriger Junge war Hans Bierwag mit seinen Eltern und seiner Schwester 1940 aus Bessarabien geflohen.
Das Museum baut, wenn möglich, Originalgebäude der Region an ihrem Standort ab und bringt sie ins Museum. Eine Familie aus Tostedt stellte ihr gesamtes Haus zur Verfügung, das der Großvater – aus Königsberg kommend – gebaut hatte. „Es erfordert viel Mut, eine ganze Straße nachzubauen“, sagte Dr. Sabine Schormann, Direktorin der Niedersächsischen Sparkassenstiftung, die die Finanzierung dieses Projektes in erheblichem Maß unterstützt hat. Das Projekt „Königsberger Straße“ – Kosten: 6,18 Millionen Euro – wird durch Bund, Land, Landkreis, den Förderfond Hamburg/Niedersachsen der Metropolregion, diverse Stiftungen, den Lüneburgischen Landschaftsverband, die Klosterkammer Hannover und nicht zuletzt durch den Förderverein des Freilichtmuseums (Vorsitzender: Heiner Schönecke), der eine Bürgschaft über 1,2 Millionen übernommen hatte, gefördert.
Das Projekt will aber mehr als Geschichte erlebbar und begehbar machen. Es will auch eine Lücke im historischen Wissen der Folgegenerationen schließen helfen. Denn viele, zu viele wissen nicht mehr, wie die Nachkriegsgeneration groß geworden ist. „Dieser wissenschaftlich-fundierte Straßenzug wird seinen Beitrag dafür leisten“, ist sich Andreas Sommer, Vorsitzender des Vorstandes der Sparkasse Harburg-Buxtehude, sicher.