Jeder singt einzeln und trotzdem nicht allein!.
Technisch großes Kino: Digitale Chorproben mittels Zoom.
Die Männer haben es sich in ihren eigenen vier Wände bequem gemacht: Am Sofa, am Schreibtisch, im Fernsehsessel, am Küchentisch oder vielleicht auch in einer Ecke der Backstube, denn einer von ihnen ist Bäcker von Beruf. Und wer wollte, könnte seinen Platz auch am Balkon oder im heimischen Garten einnehmen, doch dann würde der Nachbar mithören. Mithören? Wieso? Die Herren sind nicht etwa Teilnehmer einer Videokonferenz, sondern wollen einfach nur singen. Sie sind Mitglieder der „Liedertafel Harmonie“, und diese hat einen originellen Weg gefunden, während der Corona-Krise, in der Chorproben nicht möglich sind (Tröpfcheninfektion), nicht gänzlich auf die Übungsabende zu verzichten. Zoom macht es möglich! Und der Dirigent? Das ist seit Jahr und Tag Peter Schuldt. Er sitzt wie alle anderen auch zuhause, allerdings am Klavier, und hat, wie die Übrigen, ein Getränk (nur für die Stimme) griffbereit. Das hebt auch die Stimmung, denn zuprosten ist natürlich nicht verboten. Jeder sieht jeden am Bildschirm seines Rechners, diesmal auch den Redakteur.
Es ist 19.30 Uhr: Nach und nach schalten sich alle Sangesbrüder zu. Knapp zehn sind es an diesem Abend, einige haben sich wegen des Spitzenpiels Dortmund-Bayern München ausgeklinkt, andere sind verhindert.
Heute steht der Song „Über’s Meer“ von Rio Reiser auf dem Programm, den Peter Schuldt für den Chor neu orchestriert hat. Er hat den Laptop aufgeklappt, um Blickkontakt mit seinen Sängern zu halten. Seine Augen springen zwischen Klaviertastatur, Noten und Rechner hin und her, er gibt für die einzelnen Stimmen den Ton an, greift in die Tasten. Jedes einzelne Chormitglied stimmt zuhause ein. So geht Singen in Zeiten von Corona. „Zoom ist hierfür eine ideale Lösung, denn die allermeisten Chormitglieder gehören altersbedingt der Risikogruppe an, Chorproben mithin unmöglich.“ Jetzt zieht der Chor in Erwägung, sich an den Übungsabenden – gutes Wetter vorausgesetzt und unter Einhaltung aller Hygiene- und Vorsichtsregeln (Stichwort: Aerosole) – unter freiem Himmel auf dem Grundstück eines Sangesbruders zu treffen. „Das macht dann noch mehr Spaß“, sind sie sich einig.
Bei Peter Schuldt laufen alle Fäden, auch die technischen, zusammen. Dass sich die Chormitglieder (das älteste ist geschlagene 95 Jahre alt und vielleicht das älteste Zoom-Mitglied überhaupt) bei aller Herausforderung als dermaßen technik-affin erwiesen haben (zugegebenerweise mit Hilfe der Tochter von Peter Schuldt, die ein kleines Video erstellt hat, um die Zoom-Anmeldung zu erläutern), beeindruckt Peter Schuldt sichtlich. Sie sind alle mit Begeisterung dabei, singen, stellen Fragen, kommentieren den Ablauf und prosten sich schon mal zu. Und weil PC-Technik nicht selten auch Frauensache ist, huscht hin und wieder auch schon mal eine Damenhand durch das Bild, um den Absturz zu vermeiden. So singen sie dann, jeder für sich und doch zusammen. Call-Response-Prinzip. Kleiner Nachteil: Man könnte auch alle Teilnehmer zusammenschalten, „doch der Ton wird nur mit Verzögerung (und mithin langsamer als das Bild) transportiert, und das klingt dann wie Gulasch“, weiß Schuldt. Dass es „kein normales Singen ist“, weiß auch er, doch das tut der Sache keinen Abbruch. Und wer möchte, kann sich auch die entsprechenden Noten aus der Dropbox herunter laden. Die Gemeinschaft fördert das auf jeden Fall.
Jetzt hofft Peter Schuldt, dass noch ein paar mehr sangesfreudige Männer Lust auf diesen innovativen Chor bekommen, „denn was wir hier gemeinsam leisten, ist technisch gesehen ganz großes Kino“, sagt es und wendet sich wieder dem analogen Klavier und der digitalen Technik zu. Alles Wissenswerte über die Liedertafel Harmonie von 1865 aus Finkenwerder gibt’s im Internet.
