„Es darf keine Corona-Bildungsverlierer geben“

SPD -Vorstandsmitglied und Schulexperte der SPD in Neugraben-Fischbek Henning Reh sieht noch Änderungsbedarf

„Es darf keine Corona-Bildungsverlierer geben“.

Gedanken von Henning Reh zur aktuellen Krise.

(Henning Reh). Ich bin kein Virologe und ich bin auch kein Intensivmediziner, ich bin ein Vater von drei Kindern. Schön gestaffelt: Vorschulklasse, dritte Klasse Grundschule und 8. Klasse Gymnasium. Wir haben es gut. Uns steht ein Haus mit Garten zur Verfügung, wir haben einen guten Internetanschluss, WLAN, drei Smartphones, drei Notebooks, zwei Tablets, einen leistungsfähigen Laserdrucker. Auch Klopapier steht uns ausreichend zur Verfügung.
Mein Arbeitgeber ermöglicht mir die Arbeit von zu Hause. Das klappt prima. Vor allem, weil auch wesentliche Teile meiner Arbeit durch die Corona-Krise entfallen. Meine Frau ist Beamtin und geht täglich in ihr Büro. Viele dienstliche Aufgaben kann sie per Video- und Telefonkonferenzen erledigen. Wir sind auf der ‚Sonnenseite‘ der Krise. Abgefedert, keine Existenzängste, keine Zukunftssorgen. Wir sind dankbar. Und wir sind besorgt.
Der Jüngste bekommt Ausmalbilder, kleine Bastelaufgaben und ähnliche Herausforderungen aus der Schule geschickt. Das macht seine Lehrerin großartig. Zum Teil ist es Material, das ausgedruckt werden muss. Oft sind es aber auch kleine Anregungen, was man machen kann, ohne auf technische Ressourcen zugreifen zu müssen. Doch er ist da sehr speziell. Manchmal hat er Lust dazu, manchmal findet er es einfach nur blöd und manchmal sucht er sich lieber die Matheaufgaben seines großen Bruders aus und macht diese. Der Drittklässler würde am liebsten den ganzen Tag an irgendwelchen Medien kleben und spielen, daddeln, Videos schauen. Dennoch gibt es aus der Schule Arbeitsmaterial. Das ist der Kampf, den wir beide täglich austragen. Manchmal gewinnt er, manchmal ich. Die Große ist so stark in ihrer Selbstständigkeit, dass ich einerseits begeistert bin und andererseits mir auch Gedanken mache, wieviel ich ihr da abverlangen kann. Mit ihrer Peer-Group war sie anfänglich im regen digitalen Austausch. Doch mit der Zeit wurde das dann auch weniger. WhatsApp und Co. können einfach nicht den echten Kontakt komplett ersetzen. Auch hier kommt es zu einer digitalen sozialen Isolation.
Jetzt werden erste Szenarien erarbeitet, wie es so langsam wieder eine Öffnung geben kann. Geschäfte, erst die kleineren, Schulen, erst Grundschule oder doch erst Abschlussjahrgänge – das kann man noch nicht sagen – später vielleicht Kitas, Sport, Spielplätze. Nichts Genaues weiß man nicht. Aber wie wird es denn weitergehen? Weitermachen, wie bisher? Das wird nicht funktionieren.
Unsere Schulen, unsere Lehrerinnen und Lehrer haben sich enorm ins Zeug gelegt. Sie haben innovative Ideen entwickelt, wie sie ihr Unterrichtsmaterial in die Elternhäuser bringen können. Sie haben Onlinematerial entwickelt, Arbeitsblätter erstellt, Videokonferenzen gestartet. Jede und jeder nach den eigenen Fähigkeiten.
Und hier kommen wir zu einem mehrfachen Ungleichheits-Problem. Manche Lehrerinnen und Lehrer sind technikaffin, kennen sich mit den modernen Medien aus und gestalten kreative Lernszenarien. Manche sind engagiert, doch es fehlt ihnen die Umsetzungskompetenz und manche sind einfach technikfern und sperren sich dem Medieneinsatz. Hier ist eine Schere bereits vorhanden, und diese hat sich weiter aufgetan. Es gibt die Gewinner-Pädagogen, die jetzt einen Schub nach vorne machen und es gibt die, die auf ihrem Stand stehen bleiben. Hier wird es Aufgabe der Lehrer(fort)bildung sein, die Unterschiede zu verringern. Es müssen geeignete Konzepte Anwendung finden, die auch hier wieder eine gute technologisch gestützte Lehrerkooperation ermöglichen, bei der nicht die Technologiekompetenz zum neuen Herrschaftswissen wird.
Aber es gibt auch die stark anwachsenden Bildungsdisparitäten bei den Kindern. Für unsere Kinder gibt es die technologische Unterstützung, wir drucken Arbeitsblätter aus, wir stellen Technik zur Verfügung, wir halten sie an, ihre Aufgaben zu erledigen. Wir kontrollieren die Aufgaben und wir recherchieren dann auch zur Not, wie das Ohm’sche Gesetz eigentlich nochmal war. Und manchmal lassen wir sie auch einfach mal laufen. Warum sollen wir uns die Köppe zu Hause einschlagen. „Andere schlagen sich die Köppe ein.“ Häusliche Gewalt, Kindeswohlgefährdung. Und wir wissen es doch schon seit Langem aus der Forschung und aus eigener Erfahrung: Kinder aus bildungsnahen Haushalten kommen nach den Sommerferien mit mehr Wissen zurück und Kinder aus bildungsfernen Haushalten kommen mit weniger Wissen aus den Ferien zurück. Ferien sorgen für eine Spreizung des Wissens. Lehrerinnen und Lehrer haben dann nach den Ferien die Aufgabe, diese Divergenzen zu mindern und gleichzeitig die Leistung aller zu steigern. Und seien wir doch mal ehrlich: Trotz aller Bemühungen, irgendeine Form von Beschulung zu Hause zu gewährleisten, handelt es sich um eine Art Corona-Zwangsferien – nur ohne die ausgelassene Freude an Ausflügen, Urlaub, gemeinsamer Freizeit und mehr. Nebenbei stellt sich die Frage, wie die Leistungen eines ganzen Halbjahres bewertet werden sollen, in dem nur rund vier Wochen regulären Unterrichts stattgefunden haben.
Und noch eine weitere Verschiedenartigkeit tut sich auf, die mir Sorgen macht. Unsere Kitas bleiben weiterhin geschlossen. Doch gerade das sind die Orte, in denen Verschiedenartigkeiten abgebaut werden. Hier findet der soziale Kontakt unserer Jüngsten zu Gleichaltrigen statt. Hier findet Sprachförderung auch alleine dadurch statt, dass es manchmal der einzige Ort für die Kleinsten ist, an dem sie mit der deutschen Sprache in guten Kontakt treten. Hier werden Eingangsvoraussetzungen geschaffen, dass die Kinder in der Grundschule eine gerechtere Startposition bekommen. Schon jetzt ist der Unterschied im Entwicklungsstand der Vorschulklässler und Erstklässler enorm. Hamburg hat mit einem großartigen Kita-System erfolgreich dazu beigetragen, diesen Unterschied zu mindern. Das darf nicht in Frage gestellt werden.
Nach Corona werden wir Kinder mit mehr Heterogenität haben als je zuvor. Familiäre Krisen verstärken dies. Technologische Unterschiede ebenfalls. Es muss vorrangige Aufgabe unseres Bildungssystems sein, diese Disparitäten zu mindern. Es kann nach Corona nicht sein, dass weitergemacht wird, als wäre nichts geschehen. Curricula, Lehrpläne, Stoffpensum jedes Jahrgangs müssen kritisch hinterfragt werden. Es muss eine Aufholjagd beginnen, um keine weitere Spreizung in der Bildung zu manifestieren. Es darf keine Corona-Bildungsverlierer geben. Das muss unsere Gesellschaft leisten können.
Nun habe ich schon einführend erwähnt, was ich alles nicht bin. Das möchte ich ergänzen: Ich bin auch kein Bildungswissenschaftler, ich bin kein Bildungsplaner, kein Lehrer und kein Schulleiter, ja nicht einmal ein Bildungspolitiker. Ich kann keine Lösungen präsentieren, wie das gelingen kann. Aber ich kann und will alle diese Professionen darauf hinweisen, dass es gelingen muss.