
Chaostage der Harburger Politik.
Koalitionsverhandlungen vertagt.
Zwei Monate nach der Wahl zur Bezirksversammlung macht sich in Harburg statt Aufbruchstimmung lähmendes Entsetzen breit. Nach einer dramatischen Sitzung des SPD-Kreisvorstands musste die Entscheidung über die Aufnahme von Koalitionsverhandlungen vertagt werden. Damit droht dem Bezirk mindestens bis September politischer Stillstand.
Dabei besteht dringender Handlungsbedarf: Im September endet die sechsjährige Amtszeit von Sophie Fredenhagen. Sie müsste mit mindestens 26 Stimmen der insgesamt 51 Bezirksabgeordneten wiedergewählt werden. Rein theoretisch könnte das eine Große Koalition aus SPD und CDU schaffen, aber auch eine rot-grün-rote Koalition aus SPD, Grüne und der Linken. In der Praxis würde die Wiederwahl bei einer Großen Koalition aber an der Weigerung der CDU scheitern, Fredenhagen zu wählen. Die CDU hatte schon vor sechs Jahren versucht, mit einer Schmutzkampagne die Wahl von Fredenhagen zu verhindern.
Deshalb hatte sich SPD-Fraktionschef Frank Richter intern längst für eine Koalition mit den Grünen und der Linken entschieden. Sein Problem: Nicht alle 15 Mitglieder der SPD-Fraktion stehen hinter ihm. Die Rede ist von mindestens vier Abweichlern, darunter Benizar Gündogdu aus Wilstorf und ihr Verlobter Mehmet Kizil aus Hausbruch. Sie werden auch von einer Mehrheit im aktuellen SPD-Kreisvorstand unterstützt. Und schon taucht ein weiteres Problem auf: Der Kreisvorstand hätte schon im Frühjahr neu gewählt werden müssen. Das soll jetzt auf Wunsch von fünf der acht SPD-Distrikte im Bezirk Anfang September nachgeholt werden, um dann endlich eine Entscheidung über mögliche Koalitionsverhandlungen zu treffen.
Unterdessen frohlockt CDU-Fraktionschef Rainer Bliefernicht. Er hat ganz andere Pläne. Ginge es nach ihm, würde sein Marmstorfer Nachbar Klaus Thorwarth, Vorsitzender Richter am Verwaltungsgericht Hamburg, neuer Bezirksamtsleiter. Und rein theoretisch hat sich Bliefernicht schon eine Mehrheit für seinen Kandidaten zusammengebastelt. Überraschend geht er sogar von sechs Abtrünnigen in der SPD-Fraktion aus. Dazu kämen zwölf Stimmen von der CDU, vier von der Linken, drei von Volt und zwei von der FDP. Macht zusammen 27 Stimmen.
Auf welche Mehrheit sich aber ein Bezirksamtsleiter Thorwarth bei der weiteren Gestaltung des Bezirks verlassen könnte, bleibt das Geheimnis von Bliefernicht. „Ich will nur, dass es endlich weitergeht“, sagt Bliefernicht. Seine Träume von einer stärkeren Rolle seiner Partei und vor allem für sich selbst könnten auch schnell platzen. So sagt Jörn Lohmann, Fraktionschef der Linken: „Wenn sich Herr Bliefernicht da man nicht kräftig verrechnet hat.“ Seine Fraktion habe sich jedenfalls definitiv noch nicht entschieden, ob sie Fredenhagen oder gar Thorwarth wählen würde. Für die Linke sei entscheidend, dass die AfD bei der Wahl des höchsten Amts im Bezirksamts keine Rolle spielt. Lohmann: „Da machen wir auf keinen Fall mit.“
Der Streit in der SPD war vor Kurzem zusätzlich angeheizt worden, nachdem die Staatsanwaltschaft Hausdurchsuchungen bei sechs türkisch-stämmigen Genossen angeordnet hatte. Zunächst ging es nur um beschädigte Wahlplakate. Der Verdacht: Einer der Beschuldigten soll Freunde gegen Geldzahlung beauftragt haben, Plakate der SPD-Bezirkskandidatin Natalia Sahling zu entfernen und diese später durch eigene Plakate zu ersetzen. Mit anderen Worten: Der Beschuldigte muss ebenfalls ein Kandidat für die Bezirksversammlung gewesen sein, warum sonst hätte er ein eigenes Plakat aufstellen sollen?
Richtig brisant wird die Angelegenheit aber, seit der Senat eine Kleine Anfrage des CDU-Bürgerschaftsabgeordneten Dennis Gladiator nach den Erkenntnissen aus den Hausdurchsuchungen beantwortet hat. Dort heißt es: „Bei sämtlichen Beschuldigten wurden Mobiltelefone sichergestellt. Zusätzlich wurden bei einer beschuldigten Person Wahlbenachrichtigungen haushaltsfremder Personen nebst versiegelten Briefwahlunterlagen aufgefunden und beschlagnahmt.“ Einige der Durchsuchungen fanden im Übrigen zwei Tage vor der Bezirkswahl statt. Nun steht der Verdacht von Wahlmanipulation im Raum!