„Wir wollen Umstände, wie sie die anderen auch hatten!“

Bildungssenator Ties Rabe hält an den Abiturprüfungen in Zeiten von Corona fest Foto: Senatskanzlei Hamburg/Michael Zapf

„Wir wollen Umstände, wie sie die anderen auch hatten!“.

​​​​Abiturprüfungen sollen trotz Pandemie stattfinden.

Das Coronavirus beherrscht den Alltag, die Nachrichten, die Gespräche in der Familie, im Bekanntenkreis. Schulen, Geschäfte, Betriebe sind geschlossen, Veranstaltungen abgesagt oder verschoben, alle befinden sich in Schockstarre. Keiner weiß genau, wann und wie es mit dem „normalen“ Leben wieder weitergeht. Von dieser weltweiten Krise sind auch die Schülerinnen und Schüler betroffen, die in diesem Jahr ihr Abitur machen wollen. Und geht es nach dem Willen der Kultusministerinnen und -minister der Länder, finden die Prüfungen auch statt. Nach einer Telefonkonferenz zum Thema am vergangenen Mittwoch steht fest: „Alle Kultusminister sind jetzt einig und haben Klarheit geschaffen. Unser Beschluss ist eindeutig: Die Prüfungen, insbesondere die schriftlichen Abiturprüfungen, finden zum geplanten Termin oder zu einem Nachholtermin bis Ende des Schuljahres statt, soweit dies aus Infektionsschutzgründen zulässig ist. Wie derzeit in Hessen können die Prüfungen auch dann stattfinden, wenn der offizielle Schulbetrieb noch ruht. Eine Absage der Prüfungen zum jetzigen Zeitpunkt ist nicht notwendig“, teilte Hamburgs Schulsenator Ties Rabe (SPD) mit. Vorausgegangen war ein Vorschlag von Schleswig-Holsteins Bildungsministerin Karin Prien (CDU), die Abiturprüfungen ausfallen zu lassen und stattdessen die Note auf Grundlage der bisher erbrachten Leistungen zu ermitteln. Das war auf großes Unverständnis gestoßen, von Verantwortungslosigkeit war die Rede.
Schülerinnen und Schüler des Helmut-Schmidt-Gymnasiums aus Wilhelmsburg hingegen befürworten den Vorschlag Priens, haben sogar einen Offenen Brief an Hamburgs Bürgermeister Peter Tschentscher und Schulsenator Ties Rabe geschrieben und ihre verzweifelte Lage beschrieben. „(…) hier melden sich Schüler*innen, die sich gerade mehr oder minder auf ein Abi vorbereiten, das während einer Pandemie stattfinden soll, die weltweit das soziale Leben und die Wirtschaft zum Erliegen bringt. Kinder und Jugendliche sind tagtäglich mit Bildern aus der Welt und vor allem aus Italien und Spanien konfrontiert, wo man mit dem Abtransport der Leichen nicht nachkommt. Alle Nachrichten drehen sich nur um die Gefahr des Coronavirus und es ist erschreckend, dass sich niemand den Ängsten der Kinder und Jugendlichen annimmt“, beginnen die Verfasser den Brief. Unter anderem schildern sie die Situation, in der sie sich gerade befinden, von beengten Räumlichkeiten, fehlenden Plätzen, um sich in Ruhe auf die Prüfungen vorzubereiten. So ignoriere man die Lebensumstände der Jugendlichen kategorisch, „indem uns Aufgaben über Aufgaben gestellt werden, die zudem bewertet werden sollen.“ Und „die Umstände, unter denen wir uns vorbereiten sollen, sind aber nicht nur schwierig, sie fördern stadtteilbezogen die ihnen wohl bekannte Ungleichheit. (…) Wir bitten Sie, das Abitur während dieses weltweiten Notstandes als „Durchschnittsabitur“ zu werten, wie wir dieses auch in einer Petition fordern oder wenigstens die Prüfungstermine zu verschieben“, heißt es weiter.
Omeima Garci, eine der Initiatoren des Briefes, weiß, wovon sie spricht. Die Eltern der 18-Jährigen arbeiten beide, sie ist mit ihren drei kleinen Geschwistern zu Hause und passt auf sie auf. Eine ruhige Ecke zum Lernen? – Fehlanzeige. Wie Omeima bis zu den schriftlichen Prüfungen den Lernstoff schaffen soll, weiß sie nicht.
Für Schulsenator Ties Rabe ist das Durchschnittsabitur, wie von den Schülerinnen und Schülern gefordert, keine Alternative. „Mit diesen klaren Vorgaben haben unsere Schülerinnen und Schüler jetzt größtmögliche Sicherheit, soweit es die besondere Situation zulässt. Diese klare Entscheidung liegt auch im Interesse der betroffenen Abiturienten. Es mag kurzfristig attraktiv scheinen, das Abiturzeugnis auch ohne Prüfungen zu bekommen. Langfristig bedeutet es aber für alle Schülerinnen und Schüler, dass sie jahrelang mit dem Makel leben, nur ein Abitur zweiter Klasse erreicht zu haben. Zudem ist zum jetzigen Zeitpunkt nicht zu garantieren, dass ein eingeschränktes Abiturzeugnis ohne die wichtigen Abiturprüfungen überall in Deutschland und Europa genauso wie ein reguläres Abiturzeugnis anerkannt wird.
Der Beschluss berücksichtigt auch, dass es gegenüber den Abiturienten der vorangegangenen und Folgejahrgänge schwer zu erklären ist, wenn jetzt ein ganzer Jahrgang ohne die schweren Abschlussprüfungen mit nur 66 Prozent der geforderten Leistungen ein gleichwertiges Abitur bekommt. Das ist auch deshalb problematisch, weil in normalen Jahrgängen in der Regel mehrere Tausend Schülerinnen und Schüler das Abitur nicht bestehen, weil sie in den Abiturprüfungen durchfallen. Hier brauchen wir vergleichbare Maßstäbe über die Jahrgänge hinweg!“
Die schnelle Antwort des Senators auf den Offenen Brief lässt eine verzweifelte Abiturientin zurück: „Ich finde es wirklisch schlimm. Ich fühle mich total hilflos. Der Senator sprich von vergleichbaren Maßstäben. Dann wollen wir auch Umstände, wie sie die anderen auch hatten. Und wir haben noch nicht mal die Möglichkeit, zu demonstrieren.“
Die Online-Petition „abi-2020-umdenken“ ist zu finden unter www.change.org/p/peter-tschentscher-abi-2020-umdenken. Bis Donnerstagmittag, 26. März, 14 Uhr, hatten bereits über 100.000 Unterstützer die Petition unterschrieben.