Letzter Schliff an der neuen 1950er-Jahre-Tankstelle

FLMK -Ein Lanz Bulldog parkt vor der 1950er-Jahre-Tankstelle.

Letzter Schliff an der neuen 1950er-Jahre-Tankstelle.

Freilichtmuseum: Auftakt des Projekts „Königsberger Straße“ mit bundesweiter Bedeutung.

Eine Tankstelle als Symbol für die großen, gesellschaftlichen Veränderungen: Das Freilichtmuseum am Kiekeberg richtet jetzt eine 1950er-Jahre-Tankstelle als dauerhaftes Ausstellungsgebäude ein. Dazu translozierte es im Oktober 2018 eine alte Tankstelle aus Stade an den Kiekeberg. Sie ist das erste Gebäude, das in der „Königsberger Straße“ eröffnet wird: Am 15. September, ab 14 Uhr steht sie den Besuchern offen. Dazu fehlt jetzt noch der letzte Schliff: Ein wenig rot-weiße „Gasolin“-Farbe, Blumen für die Rabatten und die Einrichtung des Tankwarthäuschens mit originalen Gasolin-Gegenständen.
Alexander Eggert, der das Projekt „Königsberger Straße“ zusammen mit Museumsarchitektin Theda Pahl leitet, erklärt die Besonderheit der Tankstelle: „Die war in den 1950er Jahren ein Kristallisationspunkt im Dorf. Mit ihr zog die Moderne überall in der Provinz ein. Bürger wurden flexibler, sie konnten mit ihren Motorrädern und Autos zum Einkaufen und zu Ausflügen fahren. Tankstellen wurden kommunikative Treffpunkte und markante Orte mit Neonbeleuchtung. Nicht zuletzt: Sie sind ein Symbol dafür, dass die Technik Einzug erhält in den Orten.“
„Wir lassen die Nachkriegszeit wieder auferstehen“, sagt Museumsdirektor Stefan Zimmermann und stellt die Verbindung zur allgemeinen Entwicklung in den Nachkriegsjahren her: „An der für heutige Verhältnisse kleinen Tankstelle können wir viel ablesen: Das Freizeitverhalten ändert sich, Menschen werden insgesamt mobiler. Sie pendeln zur Arbeit in die Städte. Wir freuen uns, unserer ‚Königsberger Straße‘ mit der Tankstelle aus Stade einen so gelungenen Auftakt zu geben.“ In den kommenden vier Jahren entstehen weitere fünf Gebäude, so dass im Frühjahr 2023 ein kompletter Straßenzug eingeweiht wird. Er zeigt dann mit Siedlungshaus, Ladenzeile und Fertighaus, wie sich der Alltag von 1945 bis 1979 entwickelte.
Carina Meyer, Kaufmännische Geschäftsführerin im Freilichtmuseum, zeigte die bundesweite Bedeutung des Projekts auf: „In diesem Umfang ist die Darstellung der Nachkriegszeit einmalig. Das zeigt auch die Förderung des Bundes: Die Beauftragte der Bundesregierung für Kultur und Medien übernimmt über 50 Prozent der Kosten. Insgesamt beteiligen sich zwölf Förderer.“
Die Translozierung der Tankstelle war eine große Herausforderung für die Museumsarchitektin Theda Pahl, die dazu mit dem beauftragten Architekten Christoph Frenzel, Architekturbüro Frenzel und Frenzel, zusammenarbeitet. „Die Tankstelle wird dann aussehen, als habe der Inhaber Mehrtens gerade Feierabend gemacht.“ Horst und Klaus Mehrtens, deren Vater die Gasolin-Tankstelle 1954 eröffnete, erinnern sich gern an die aktive Zeit. „In den 1970er Jahren habe ich meinen Vater immer mal in der Tankstelle vertreten“, erinnert sich Klaus Mehrtens. Sein Bruder Horst Mehrtens ergänzt: „Es ist fast wie im Märchen – unsere Tankstelle wird auf Dauer bewahrt.“ Dem schließt sich Frank Schumann an. Er sammelt seit 30 Jahren Gegenstände von Gasolin: „Mit 18 Jahren habe ich eine Tanksäule gekauft, seitdem bin ich infiziert. Ich freue mich, dass ein großer Teil meiner Sammlung jetzt dauerhaft am Kiekeberg zu sehen ist.“ Dazu gehören Tankwart-Anzüge, Zapfsäulen, Quittungsblock, Kannen und Schilder – auch das berühmteste von Gasolin ist dabei: „Nimm dir Zeit und nicht das Leben.“
Die Tankstelle aus Stade, damals noch im selbständigen Dorf Campe gelegen, zeigt beispielhaft die Entwicklung von einer klassischen Dorfschmiede zu einer serviceorientierten, modern gestalteten Tankstelle. Schon in den 1910ern verkaufte Familie Mehrtens Benzin in der Schmiede an die wenigen Automobilisten. 1928 wurde, neben Schmiede und Wohnhaus, eine Dapolin-Pumpanlage (von der Deutsch-Amerikanischen Petroleumgesellschaft, später Esso) installiert. Sie bestand aus einer einfachen Zapfsäule, ungeschützt gegen Witterungseinflüsse, und wurde per Hand bedient. Das war damals sehr innovativ: Erst 1923 wurde Deutschlands erste öffentliche Pumpanlage in Hannover eröffnet.
Im Laufe der Jahre modernisierte der Besitzer die Tankstelle: 1932 erhielt sie ein Schutzdach, weitere Tanks kamen hinzu. Nachdem Esso 1953 die Tankanlage an die Deutsche Gasolin AG (später übernommen durch Aral) verkaufte, begann die moderne Zeit: Eine ausdrucksstarke, gleichförmige Architektur und charakteristische Farben des Mineralölkonzerns schufen eine hohe Wiedererkennbarkeit und symbolisierten die fortschrittsbegeisterte Zeit. So erhielt die Tankstelle 1954 ein über zehn Meter langes Flugdach, ein Tankwarthaus mit Kiosk und WC und zwei beidseitig befahrbare Tanksäulen. Gebaut wurde zeittypisch als Stahlkonstruktion, die jedoch die Anmutung eines Massivbaus erhielt – alles in den Gasolin-Farben rot und weiß gehalten. Anfang der 1960er erweiterte der Besitzer die Serviceleistungen: Er baute eine Pflegehalle, in der die Autos gewaschen, von innen geputzt und gegen Rost behandelt wurden.
1984 wurde der Tankstellenbetrieb eingestellt. Bis zum Schluss führte Besitzer Karl Mehrtens die Tankstelle als Bedienungstankstelle: Ein Klingelschlauch informierte ihn auch in seinem Wohnhaus, wenn neue Kunden an die Tanksäule fuhren.
Die Anlage wurde nach der Schließung ohne gravierende Veränderungen bis 2018 verpachtet. Im Oktober 2018 wurde die Tankstelle transloziert: Sie wurde abgebaut und in drei Teilen zum Kiekeberg gefahren. Dort ist die Tankstelle im Zeitschnitt von 1955 mit den charakteristischen Farben rot-weiß restauriert und mit passenden Werbeschildern und Einrichtungsgegenständen ausgestattet worden. Am 15. September 2019 wird sie als erstes Gebäude in der neuen „Königsberger Straße“ eröffnet.