„Europa ist routiniert ratlos“

pm -Die CDU muss nicht grüner als die Grünen werden

„Europa ist routiniert ratlos“.

Friedrich Merz sprach der CDU im Wahlkampf aus der Seele.

Wer auf den letzten Drücker gekommen war und meinte, mal eben so einen Platz im Festsaal des Privathotels Lindtner einnehmen zu könne, der hatte sich gewaltig geirrt. Schon geraume Zeit vor dem Beginn der Wahlkampfveranstaltung der Harburger CDU am Mittwoch brach der Verkehr rund um das Hotel beinahe zusammen, die Parkplätze waren bis in die Seitenstraßen längst belegt. Im Hotel musste Stuhl um Stuhl in den Saal gebracht werden, bis annähernd 600-650 Personen endlich einen Sitzplatz fanden. Die Gastgeber Birgit Stöver, CDU-Wahlklreiskandidatin im Wahlkreis Harburg für die Bürgerschaftswahl am 23. Februar und André Trepoll, CDU-Fraktionsvorsitzender in der Bürgerschaft und Wahlkreiskandidat in Süderelbe, hatten einen Mann eingeladen, der, wenn man um sich hört, seine zweite politische Karriere noch vor sich hat: Friedrich Merz. Der ehemalige CDU-Fraktionsvositzende im Bundestag, den die Kanzlerin im Rahmen ihrer Personalpolitik schließlich „weggebissen“ hatte, hat seine politische Auszeit beendet und mischt wieder mit – diesmal als Unterstützer der Harburger CDU im Wahlkampf. Der gebürtige Sauerländer traf mit über 30-minütiger Verspätung im Lindtner ein – die Aufzeichnung der Talk-Show mit Markus Lanz hatte länger gedauert. Als „Vorgruppe“, wie sich Trepoll und Stöver bezeichneten, unternahmen die beiden Lokalmatadore eine tour d’horizont durch die Hamburger Politik und listeten akribisch die Defizite des rot-grünen Senats in sämtlichen Politikfeldern auf, nicht ohne christdemokratische Alternativen zu bieten. Ihr Fazit: „Dieser Senat darf nicht so weitermachen wie bisher.“ Besonders dass Harburg verkehrlich abgehängt werde, weil die U4 an den Elbbrücken ende, sei nicht nachvollziehbar. Trepoll äußerte sich in der Kürze auch zu den Ereignissen des Tages in Thüringen, wo gerade der FDP-Fraktionsvorsitzende im Landtag mit den Stimmen der AfD zum Ministerpräsidenten gewählt worden war. Eine Katastrophe sei das, sagte Trepoll. Dann war Merz da. Der 64-jährige Sauerländer nahm den Ball gleich auf. Diese Wahl werde die Parteien und die Öffentlichkeit noch lange beschäftigen, weil sie ein Tabubruch gewsen sei, ließ er wissen. Allerdings müsse man auch fragen, wie es in Thüringen nach der Landtagswahl zu einer dermaßen verfahrenen Situation habe kommen können. In einem ersten Schritt müsse man die Vernünftigen aus der AfD wieder zurückgewinnen, so Merz. Dann werde so etwas nicht wieder passieren.
Ein Wort des Trostes für die SPD, die bundesweit bei plus/minus 15 Prozent steht, hatte er auch mitgebracht. Für Deutschland sei es nicht gut, dass diese vormals große Volkspartei da stünde, wo sie jetzt steht – ihre aktuelle Doppelspitze gebe aber keinen berechtigten Anlass zur Hoffnung, dass sich das schnell ändern würde. Mit Helmut Schmidt sei das anders gewesen, „er war nicht der schlechteste Kanzler Deutschlands“, bilanzierte er.
Mit den Niederungen der Landespolitik hielt sich der Gast nicht lange auf. Sein Thema war die Europapolitik. „Europa ist routiniert ratlos“, stellte er fest, und erinnerte an die Visionen des französischen Präsidenten Macron, auf die die Bundeskanzlerin (ohne sie persönlich zu nennen) bis heute nicht geantwortet habe. Mit Macron müsse man nicht immer einer Meinung sein, doch sich wenigstens Gedanken über seine Ideen zu machen, sei angebracht gewesen. So aber habe man sich in die Postion des stillen und passiven Beobachters begeben. Brexit (Großbritannien), die Besetzung der Krim und das Engagement in Syrien (Russland), Trump (der, so Merz, wahrscheinlich wiedergewählt werde – und wenn nicht, sei das Post-Trump-Amerika auch nicht mehr das Obama-Amerika) und China, dessen Präsident auf Lebenszeit gewählt ist und eine expansive Wirtschaftspolitik betreibe – siehe neue Seidenstraße, die im Duisburger Hafen endet – seien große Herausforderungen für die Zukunft. Da müsse Europa schnellstens seine Rolle im internationalen Machtgefüge finden, wenn es nicht dauerhaft von diesem Polit-Viereck abgehängt werden wolle. Dazu gehöre auch die Gründung von multinationalen Konzernen wie Airbus, um ein wirtschaftliches Gegengewicht präsentieren zu können.
Die Welt erlebe heute einen Epochenwandel und „der Populismus zerfrisst die politischen Systeme.“ Wie man das abwendet? „Wir müssen die Mitte stärken“, lautete seine Antwort, und das bedeute, Standpunkte klar zu machen und sich ohne Wenn und Aber von politischem Extremismus von rechts und links zu distanzieren. Nur dann könne man seinen Kindern und Enkeln später glaubhaft sagen, dass mit dem Zusammenbruch des Kommunismus nicht, wie ein Buchtitel es damals formuliert hatte „Das Ende der Geschichte“ gekommen sei. Erst in zehn Jahren könne man beurteilen, wohin der Epochenwandel geführt habe. Um an der Gestaltung dieses Wandels mitwirken zu können, müsse Europa allerding „weltpolitikfähiger“ werden, sprich, seine Standpunkte klar formulieren.
In der bevorstehenden Entwicklung – und also auch im Wahlkampf – seien die Grünen der hautsächliche politische Gegner der Union. Klimaschutz ja, aber bitte mit den Menschen und Unternehmen und nicht gegen sie, forderte der Redner, denn Ökonomie und Ökologie hätten nur zusammen eine gemeinsame Zukunft. Deshalb sei die CDU auch schlecht beraten, wenn sie grüner als die Grünen werden wolle. Im Übrigen ginge es Deutschland heute so gut wie nie zuvor in seiner Geschichte. Die Behauptung von Fridays for Future, man habe der Jugend die Jugend gestohlen, könne gerne als Affront verstanden werden. Ein solcher sei auch der Umgang des Senats mit der Roten Flora, ein Hort der linksextremen Gewalt. Ob man den gleichen Großmut walten ließe, wenn es sich um rechtsraikale Gewalt handele, fragte Merz rhetorisch. Der Applaus für seine in freier Rede vorgetragenen Gedanken war ihm gewiss. Und im Saal herrschte die Meinung, dass hier einer am Rednerpult gestanden hat, der an der zukünftigen politischen Gestaltung des Landes an vorderster Stelle noch mitmischen wird.
Birgit Stöver, André Trepoll und der eigentliche Gastgeber Uwe Schneider, CDU-Kreisvorsitzender in Harburg, waren sich abschließend sicher: „Dies war die bisher größte Wahlkampfveranstaltung hamburgweit.“